Bis(s) zum Morgengrauen by Meyer Stephenie

Bis(s) zum Morgengrauen by Meyer Stephenie

Autor:Meyer, Stephenie [Meyer, Stephenie]
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 3551581495
Herausgeber: TUX
veröffentlicht: 2010-05-03T22:00:00+00:00


Lamm und Löwe

Edwards Anblick in der Sonne war ein Schock. Ich starrte ihn zwar schon den ganzen Nachmittag lang an, konnte mich aber einfach nicht daran gewöhnen. Seine Haut war blütenweiß, vielleicht mit dem Hauch einer Rötung von der Jagd am Vortag, und sie glitzerte, als hätte man Tausende winziger Diamanten in sie eingelassen. Er lag vollkommen reglos im Gras; das offene Hemd enthüllte die Skulptur seiner Brust, seine Arme waren unbedeckt und seine zart lavendelfarbenen Lider geschlossen, obwohl er natürlich nicht schlief. Und alles funkelte. Er war eine Statue der Vollkommenheit, gemeißelt aus einem unbekannten Stein, der glatt wie Marmor war und glänzend wie ein Kristall.

Hin und wieder bewegten sich seine Lippen, so schnell, dass es aussah, als bebten sie. Als ich ihn danach fragte, sagte er, dass er vor sich hin sang; die Töne waren so tief, dass ich sie nicht hören konnte.

Auch ich genoss das schöne Wetter, obwohl mir die Luft längst noch nicht trocken genug war. Ich hätte mich gerne, genau wie er, auf den Rücken sinken lassen, um die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht zu spüren. Doch dann hätte ich meinen Blick von ihm abwenden müssen – und so saß ich mit angezogenen Beinen da, stützte mein Kinn auf die Knie und betrachtete ihn. Ein sanfter Wind blies durch meine Haare und bewegte das Gras rings um seine bewegungslose Gestalt.

Die Wiese, deren Schönheit mir vorher noch den Atem geraubt hatte, war neben seiner Pracht verblasst.

Zaghaft und wie immer voller Angst, dass er sich – zu schön, um tatsächlich wahr zu sein – wie ein Trugbild in Luft auflösen könnte, näherte ich meine Hand seinem Arm und strich ihm mit einem Finger über den Handrücken. Zum hundertsten Mal bestaunte ich die perfekte Beschaffenheit seiner Haut: glatt wie Seide und kühl wie Stein. Als ich wieder aufblickte, sah er mich an; die Jagd hatte seine Augen verändert – sie waren viel heller als vorher und hatten einen warmen karamellfarbenen Ton. Seine makellosen Lippen hoben sich zu einem flüchtigen Lächeln.

»Mach ich dir denn keine Angst?«, fragte er schalkhaft, doch es lag auch wirkliche Neugier in seiner weichen Stimme.

»Nicht mehr als sonst auch.«

Sein Lächeln wurde strahlender; seine Zähne blitzten in der Sonne.

Ich rutschte etwas näher zu ihm heran und strich mit allen Fingern einer Hand über seinen Unterarm. Sie zitterten – seiner Aufmerksamkeit, wusste ich, würde das nicht entgehen.

»Darf ich?«, fragte ich, da er seine Augen wieder geschlossen hatte.

»Ja«, sagte er und seufzte wohlig. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.«

Mit einer Hand fuhr ich leicht über die perfekt modellierte Muskulatur seines Armes und folgte dem blassen Muster der bläulichen Adern an seiner Innenseite. Mit der anderen Hand griff ich nach seiner, um sie umzudrehen, doch er erriet meine Absicht und kehrte seine Handfläche mit einer verstörend schnellen, kaum sichtbaren Bewegung nach oben. Ich erschrak und für einen Moment erstarrten meine Finger an seinem Arm.

»Verzeihung«, murmelte er. Ich blickte ihn an und sah gerade noch, wie sich seine goldenen Augen wieder schlossen. »In deiner Nähe fällt es mir zu leicht, ich selbst zu sein.



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